
Katja Maria Hinterleitner hat selbst viele Jahre unter einer Essstörung gelitten und die Traumata ihrer Kindheit bis in ihr Erwachsenenleben mitgeschleppt. Durch die Arbeit im Bereich des systemischen Heilens, der Familienaufstellung und mit wissenden Lehrern hat sie sich erfolgreich ihren Weg ins Leben erarbeitet. Zu ihren Klienten gehören Menschen, die in belastenden Beziehungen gefangen sind, sei es mit Partnern, Freunden oder Kollegen, und diese als toxisch und energieraubend empfinden. Ebenso begleitet sie Menschen, die sich für alles verantwortlich fühlen, unter unkontrollierbarer Wut oder tiefer Traurigkeit leiden, oder die sich in ihrem Alltag überfordert und belastet fühlen.
Die Autorin beschreibt Heilung als einen „Prozess des Erkennens und Loslassens von dysfunktionalen Mustern. Vergebung gehört auch dazu. Heilung schenkt eine neue Identität, die dich formt und die dich Erfüllung in all deinen Lebensbereichen erfahren lässt“. Katja Hinterleitner schildert zunächst ihren eigenen Weg zur Lösung ihrer belastenden Muster, wobei ihr Aufstellungen in besonderem Maße geholfen haben. Sie beschreibt, was für gewöhnlich vom Hinschauen auf die Probleme ablenkt, nämlich vor allem Angst, Ablenkung durch Belohnung und Bedürfniserfüller für andere Menschen zu sein.
Das größte Problem unserer Zeit, wenn wir sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft nehmen, ist die Unausgewogenheit von Yang und Yin, von männlich und weiblich. Wir leben in einer männerorientierten Gesellschaft, in der das Yang, das Männliche dominiert – aber das toxisch Männliche: immer höher, weiter, schneller, antreibend, gestresst, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf das Weibliche. Es ist autonom und im Kampf-Modus, kennt nur sich selbst, und es fehlt das Innerliche, das Gefühl, das Weibliche.
Dazu passt als Ergänzung das toxisch Weibliche: Menschen mit toxischem Yin haben meist „kein eigenes Ziel, sind eher fremdbestimmt. Sie tun zwar viel, aber vor allem für andere, wenig für sich selbst.“ Sie verstehen und entschuldigen beim anderen jede noch so große Gemeinheit, holen für den anderen die Kohlen aus dem Feuer und bleiben selbst auf der Strecke. „Sie sind großzügig und ausgleichend mit allen anderen, sich selbst vergessen sie jedoch immer wieder. Sie setzen keine Grenzen und lassen sich von anderen überfahren.“
Die Nicht-Wahrnehmung des inneren Weiblichen beim Mann und des inneren Männlichen bei der Frau, das Getrenntsein vom eigenen Inneren (beim Mann mehr als bei der Frau) ist Hintergrund der Zerrissenheit unserer Zeit des Übergangs. Zum toxisch Männlichen und toxisch Weiblichen kommt noch, was man als toxische Individualität bezeichnen könnte, das egozentrische Inseldasein. Niemand ist nur Mann, nur Frau oder nur isoliertes Ich. Jeder hat seinen Gegenpart in sich, und jeder ist eingebunden in ein Größeres, vor allem in einen Familienverband. Die Muster aus dem Familienverband sind wiederum prägend für spätere Partnerschaften, die meist ein Abbild des Herkunftssystems sind. Und wenn sich zwei Menschen verbinden, verbinden sich auch zwei Familiensysteme.
Familienaufstellungen sind eine Technik, um Muster und Fehlhaltungen, die aus dem System Familie inklusive der Generationen davor aufzuspüren und zu lösen. Ich stand dieser nahezu magischen Methode bisher skeptisch gegenüber, auch weil es da Bühnenshows gibt, sogar von Bert Hellinger, die absolut unverantwortlich sind. Davor warnt auch die Autorin. Die Methode gehört in die Hände von gut ausgebildeten und erfahrenen Fachleuten, die ihre Klienten behutsam begleiten und den Raum für tiefgreifende Veränderungen und Heilung geben können.
Es werden verschiedene Lebensgesetze, verschiedene Familiendynamiken erklärt und mit anschaulichen Fallbeispielen verdeutlicht. Nicht alle Probleme sind unsere eigenen. Wir können z.B. die Probleme von Vater oder Mutter übernehmen und ausleben, oder sogar die von Personen der Ahnenreihe. Wenn ein Mädchen z.B. immer die Verantwortung in der Familie übernehmen musste, kann es sein, dass es später oft mit Menschen in Berührung kommt, die nicht in der Eigenverantwortung stehen. Sie sind ultimative Bedürfniserfüller. Das kann auch dazu führen, dass die Frau einen Mann heiratet, den sie mehr als Kind denn als Partner wahrnimmt.
Beziehungen können ein Raum ein, in dem auch unsere alten Wunden zum Vorschein kommen. Leben ist Beziehung. „Der Wert einer Beziehung misst sich nicht an ihrer Dauer, sondern an ihrer Lebendigkeit. Lebendige Beziehungen sind Felder, die allen Beteiligten erlauben, zu erblühen. Sie vermitteln Geborgenheit und lösen Stress auf. Sie aktivieren dein Potenzial und stärkten dein Immunsystem.“
Oft geht es aber auch um die Hoffnung, vom Partner etwas zu bekommen, was einem fehlt. Meist geht es um mangelnden Selbstwert (als Frau oder als Mann). „Das ist der Grund, dass häufig charakterlich vollkommen verschiedene Menschen zueinanderfinden.“ Irgendwann wird dann klar, dass dieses Fehlende keine Beziehung begründen konnte.
Beziehungen sind besser zu verstehen, wenn das Urprinzip von Yin und Yang verstanden wird. Jeder Mensch hat das gegengeschlechtliche Prinzip in sich – Anima und Animus. „Sonst könnte er allein gar nicht überleben. Wir brauchen einander nicht zwingend, um ganz zu werden. Aber wir brauchen uns, um uns zu erkennen…“ Eine Beziehung kann nur auf Augenhöhe funktionieren. Wenn der eine immer nur gibt und der andere immer nur nimmt, ist das auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Denn das entspricht eher einer Eltern-Kind-Beziehung und nicht einer Partnerschaft. Der eine fühlt sich abhängig, der andere überlegen, und das macht eine Begegnung unmöglich.
Diese und noch viel mehr Beziehungsprobleme kommen in dem Buch zur Sprache, und ihre Lösung wird an anschaulichen Fallbeispielen illustriert. So kann sich jeder in seinen eigenen Feldern angesprochen fühlen und so einiges klären. Aufstellungen können sehr vieles ans Licht bringen, gehören aber in die Hände von professionellen TherapeutInnen.
Katja Maria Hinterleitner
Du bist nicht deine Wunde
Wie Heilung gelingt
Goldegg Verlag 2025
ISBN: 978-3-99060-491-5
EUR 22,00