Eine einfache Frage, die fast unmöglich zu beantworten ist. Zumindest wenn man von der (vor allem psychischen) Komplexität des Menschen ausgeht.
Meist ist der erste Eindruck eine unbestimmte Anziehung, die gar nicht zuordenbar ist. Diese Attraktion hat meist gar nichts mit dem äußeren Erscheinungsbild zu tun. Für Männer ist dieses zwar meist wichtiger als bei Frauen, aber sogar diese ist mehr als das Äuißere. Attraktiv im äußeren Sinne sind viele Menschen, ohne dass da diese (innere) Anziehung da wäre. Es ist also mehr.
Gehen wir davon aus, dass der Mensch mehr ist als seine bewusste Persönlichkeit. C.G. Jung nennt sie die Persona, das „Gesicht“, das wir nach außen tragen. Das ist nicht das, was wir sind. Psychologisch „besteht“ der Mensch aus Bewusstem und Unbewusstem. Die Attraktion bei der Begegnung mit einem anderen Menschen geht vor allem vom Unbewussten aus. Wir können daher gar nicht sagen, was uns da so anzieht. Es ist ja unbewusst, und es kann vieles sein.
Es entsteht jedenfalls ein Gefühl, das wir als Liebe bezeichnen. Dabei wissen wir gar nicht, was es ist. Es gibt viele Gründe für eine unbewusste Attraktion. Es ist eine unbewusste Resonanz, ein Gleichklang, der Harmonie und Wohlbefinden schafft. Das kann aber vieles sein, sogar eine Resonanz von negativen Eigenschaften. Es kann verschiedenes sein – und doch nennen wir es Liebe – in Ermangelung des Wissens, worum es überhaupt geht. Die Sehnsucht nach Zuwendung und Liebe verführt aber dazu, alles in diesem Licht zu sehen.
Sexuelle Attraktion
Am häufigsten wird eine sexuelle Attraktion als Liebe bezeichnet – obwohl auch die nicht zuordenbar ist. Eine rein äußere Attraktion kann auch das nicht sein, denn da würden wir uns zu hunderten Menschen hingezogen fühlen, es ist aber momentan diese/r eine. Außerdem steckt auch hinter der äußeren eine innere, unbewusste Attraktion, die nicht benennbar ist. Auch bei einer rein sexuellen Attraktion ist das Äußere nicht unbedingt im Vordergrund. Im Extremfall kann der andere sogar abgrundtief hässlich sein.
Sex ist ein hormonelles Geschehen (das aber auch nicht von der Psyche getrennt werden kann), und Ausdruck intimer Kommunikation. Das muss gar nichts mit Liebe zu tun haben. Im Idealfall ist es Ausdruck von Liebe und Sprache der Liebe, und da wir alle dieses Ideal im Kopf (oder im Herzen) haben, nennen wir es voreilig Liebe. Was verhängnisvoll sein kann: Wir fühlen wir uns fast automatisch geliebt, wenn uns jemand sexuell begehrt – auch wenn es nur dieses Begehren ist und nichts mit Liebe zu tun hat. Da spielen uns oft mehr oder weniger bewusste Ideale und unbewusste Resonanzen einen oft tragischen Streich…
Besonders Narzissten spielen gekonnt auf dieser Klaviatur. Selbst unfähig für Empathie und Liebe haben sie eine Art Röntgenblick für die Psyche der Partnerin, wissen genau, wie sie „funktioniert“ und welchen Knopf sie drücken müssen, um das zu erreichen, was sie wollen. Und dieses Wollen verkaufen sie erfolgreich als Liebe, zu der ein krankhafter Narzisst gar nicht fähig ist. Außerdem manipuliert und konditioniert er so perfekt, dass seine Partnerin, sogar wenn sie ihn schon rational durchschaut hat, ihm immer noch verfallen ist – und das als Liebe bezeichnet.
Erotik
Erotik ist, wenn das Äußere Geschehen von Seelischem durchtränkt ist. Das Körperliche bekommt eine Leichtigkeit, eine spielerische Komponente, das berühmte Knistern in der Luft. Die Antike unterschied zwischen Sexus, Eros und Agape. Im Idealfall ist in einer Liebe alles das enthalten: körperliche Attraktion, seelische Resonanz und ein Gefühl des alles Umfassens. Konkret ist es immer ein Mehr oder Weniger. Da zu einer Beziehung immer zwei gehören, ist es in den seltensten Fällen so, dass beide auf demselben Stand sind. Unterschiede können auch anziehend und spannend sein, sich ausgleichen und zur Weiterentwicklung führen.
Zu große Unterschiede führen zu großen Diskrepanzen und Problemen, denen man meist nicht in die Augen schauen kann. Man nennt ja das, was ist, Liebe – egal, was es wirklich ist. Im Extremfall liebt sie mit allen Fasern ihres Körpers und ihrer Seele, während er sie nur als Instrument seines Willens sieht, als Gegenstand, mit dem man etwas machen kann, das Lust verschafft. Eine fatale Kombination. Sie ist hungrig nach Zuwendung (vielleicht weil sie diese nie bekommen hat), und sieht in seiner instrumentalisierenden Zuwendung so etwas wie Liebe, so wie sie ihr vorschwebt. Was sie empfindet und fühlt, hat aber mit ihr selbst zu tun und nicht mit der realen Situation. Dieser Realitätsverlust hilft ihr, sich geliebt zu fühlen, obwohl sie missbraucht wird.
Er manipuliert sie so, bis sie sich selbst auf das Äußere reduziert und darin ihr Ideal von Liebe sieht. Er treibt ihr jegliche Erotik und seelische Resonanz aus, bis sie selbst glaubt, diese Nähe nicht zu brauchen, bis auch sie Nähe nur mit Sex verbinden kann. Sie sieht nicht, dass er als Narzisst Nähe hasst und Nähe bei ihm einen Fluchtreflex auslöst. Sie ordnet sein Davonrennen einem anderen Bereich zu und der goldene Käfig ist gerettet. So kann auch sie Erotik auf Sex reduzieren und ihr erotisches Empfinden auch ohne seine fühlende Beteiligung ausleben.
Der Sinn von Erotik wäre es aber, den Sex zu verlebendigen, aus dem Mechanischen herauszulösen, zu beflügeln, als Sprache der Liebe zu empfinden. Damit wird das ganze Leben erotisiert, die Welt wird eine andere, wenn man liebt. Das kann dann soweit führen, dass man durch den Partner alles zu lieben beginnt. Das wäre dann die dritte Form der Liebe, die Agape. Aber alle drei sind aufeinander angewiesen – der Mensch ist ein Beziehungswesen.
Was ist Liebe?
Was also ist Liebe? Etwas ganz Individuelles in diesem breiten Spektrum zwischen Außen und Innen, Sex und umfassender Liebe. Aber in der Komplexität der menschlichen Psyche kaum irgendwo festzumachen. Und in den vielfältigen Möglichkeiten der Täuschung und Selbsttäuschung ist „Echtes“ von Fake nicht immer zu unterscheiden. Was vielleicht auch gar nicht notwendig ist, weil es ohnehin nicht um ein Ist, sondern um eine Entwicklung geht – um Wege und Umwege. Aus dem, was ist – was immer es ist – kann etwas werden. Es ist ein Prozess, den C. G. Jung als Individuation bezeichnet hat. Dabei geht es um Beziehung – um Beziehung zu sich selbst, zum anderen und zu allem.
Um Beziehung des bewussten Ich zum Unbewussten, zum Schatten (alles, was wir an uns ablehnen), zum Gegengeschlechtlichen (Anima, Animus – die meist auf den Partner projiziert werden), um ganz zu werden. Was auch bedeutet, dass das Ich sich zum Selbst ausweitet – bis es sich selbst, den anderen und die „Welt“ umfasst. Es steht dann nichts Unbewusstes mehr im Wege, das zu Täuschung und Selbsttäuschung führen könnte, das umgedeutet werden muss, um damit leben zu können.
Aus dieser weiten und umfassenderen Sicht könnten wir dann die Frage neu stellen:
Was ist Liebe?