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Über Theorien und Wege - Traditionen und der eigene Weg

 

„Da streiten sich die Leut‘ herum…“ heißt es bei Johann Nestroy, dasselbe könnte man über die Esoterikszene sagen. Jede/r weiß es besser und will die anderen überzeugen. Man schimpft über die weltliche Politik und merkt nicht, dass man selbst nach denselben Mustern verfährt. Spirituelle Elite statt politischer Elite – das nannte Chögyam Trungpa „spirituellen Materialismus“ – dieselben Fehlhaltungen treten auf „höherer“ Ebene wieder auf. Das kommt einerseits vom Elitedenken – sich besser fühlen als die anderen, die erste Hürde auf dem spirituellen Weg, die viele nicht schaffen, besonders viele „Gurus“ nicht – andererseits davon, dass es nur um intellektuelle Theorien geht und nicht um Erfahrung, die das einzige Kriterium auf dem Weg ist. Wegbeschreibungen sind wichtig als Orientierung, das einzig und wirklich Wesentliche ist aber das Gehen.

 

Als ich begann, mich mit Yoga zu beschäftigen, gab es in Wien eine einzige Buchhandlung (die Buchhandlung Braumüller am Graben, die es heute nicht mehr gibt), die Bücher über Yoga führte. Da gab es ein oder zwei Bücher in der Auslage – die Biografien von Sri Ramakrishna und Swami Vivekananda von Romain Rolland – und wir pilgerten jede Woche dahin, um zu sehen, ob nicht wieder ein neues Buch zum Thema erschienen ist. Heute gibt es „Esoterikbuchläden“, die voll sind mit derartiger Literatur, jedoch bringt es die Masse mit sich, dass über 90 Prozent eigentlich unbrauchbar sind. Wie soll sich da heute jemand orientieren?

 

Wir waren daneben in einer Yogagemeinschaft, wo wir diese Orientierung erhielten. Doch war auch das ein Sonderfall. Es waren die 1970er Jahre, die Yogawelle schwappte tausende von Westlern nach Indien, allen voran die Beatles und andere Prominente, und was sie dort fanden, war letztlich im besten Fall unbedeutend. Inder sind ja durchaus geschäftstüchtig und einige „Gurus“ rochen den westlichen Braten und präsentierten dem zahlenden und anhimmelnden Publikum, was sie hören und sehen wollten. Das Ergebnis war dann nicht „Erleuchtung“ der Schülerinnen, sondern Zig Rolls Royce für den „Guru“. Und so mancher weibliche Sannyasin wurde verkuppelt und vergewaltigt statt erleuchtet. Die Inder sind ja kein Volk von erleuchteten Yogis und Buddhas, so die naive Vorstellung der suchenden Westler, sondern enorm anpassungsfähig, und viele wussten genau, wie man diese täuschen und abzocken konnte.

 

Vom Umgang mit Theorien

Einige wenige sind in den Ashrams von Yogananda, Ramakrishna oder Ramana Maharishi gelandet, was weniger spektakulär, dafür aber mühsamer war, weil es da nicht darum ging, sich „spirituell“ auszutoben, sondern darum, sich selbst weiterzuentwickeln. Womit wir beim Thema Theorie wären. Von Sri Ramana Maharishi gibt es eine wunderbare Anekdote dazu: Er schickte einmal einen Schüler zu einem anderen Yogi in eines der Nachbardörfer. Nach einiger Zeit kam der völlig verwirrt zurück. „Dieser Yogi lehrt, dass es keine Reinkarnation gibt!“ Worauf Ramana Maharishi ganz ruhig antwortete: „Ja, da hat er recht.“ Nun war der Schüler noch mehr verwirrt: „Aber du lehrst doch, dass es die Reinkarnation gibt!“ Der Meister wieder ganz ruhig: „Das stimmt ja auch.“

 

Das lehrt schon einiges über den Umgang mit Theorien. Plakativ gesagt: Die Theorie ist sinnlos, solange sie nicht verstanden wird. Darüber, ob es eine Reinkarnation gibt oder nicht, kann man endlos streiten. Das ist nämlich nicht die entscheidende Frage. Der Streit ist nichtssagend, solange man nicht darüber diskutiert, wer oder was denn da reinkarnieren soll. Das jetzige Ich ist es nämlich nicht, daher kann auch ein Yogi durchaus sagen, dass es keine Reinkarnation gibt.

 

Ein anderes Beispiel wäre die Advaita-Philosophie, die Theorie der Nicht-Zweiheit. Alles ist eins, es gibt keine Dualität, wir sind daher schon erleuchtet und müssen das nur erkennen im Hier und Jetzt. Wie alle derartigen Theorien waren das ursprünglich keine Theorien, sondern tiefe Erfahrungen, und zwar am Ende eines langen Weges. Wer heute im Westen diese Theorie der Nicht-Zweiheit nachplappert, erliegt genau der Illusion, die er (theoretisch) überwinden will. Er/sie vergisst oder verdrängt, dass er genau in dieser konkreten Welt der Dualität lebt, und dass Advaita nicht bedeutet, diese Welt zu leugnen. Die alten Rishis sind genau von dieser Welt ausgegangen und sind nach einem langen Übungsweg im Zustand (nicht in der Theorie) des Einsseins gelandet.

 

Viele der westlichen „Gurus“ handeln mit Theorien, verbrämt mit Übungen, die mehr der Unterhaltung als der Weiterentwicklung dienen. Es ist ja schon alles im Hier und Jetzt. Sie predigen die Überwindung des Ego und haben selbst ein ins Unendliche aufgeblähtes Ego. Wer z.B. die „integrale Szene“ aufmerksam verfolgt hat, mit ihren Streits und Nötigungen und Vergewaltigungen der Groupies durch ihre „Gurus“, der weiß, was ich meine. Das ist Spiritueller Materialismus (siehe wieder Chögyam Trungpa) in Reinkultur.

 

Der eigene Weg jenseits aller Tradition

Natürlich gibt es auch Seriöses auf diesem Gebiet, Schulen des Yoga, Buddhismus oder Daoismus, die der authentischen Lehre nahekommen wollen und sie auch der westlichen Mentalität anpassen. Diese sind auch sehr nützlich, um die traditionellen Wege – nicht bloß als Theorien, sondern als Übungswege – kennenzulernen. Doch da gibt es wiederum ein ganz anderes Problem: Es geht im Spirituellen nicht um einen traditionellen Weg, sondern um den je eigenen Weg! Die Tradition kann eine gewisse Orientierung bieten, aber den eigenen Weg kann ich nur durch mein Gehen finden und nicht durch Nachahmung.

 

Der Buddhismus war ursprünglich reiner Pragmatismus, hat sich erst später zu einer Philosophie entwickelt. Die indischen sind ursprünglich archaische Erfahrungswege, die wie alle anderen Systeme sich zu starren Dogmen entwickelt haben. Der Yoga geht einerseits auf schamanistische Praktiken zurück, andererseits auf den (möglicherweise aus Griechenland stammenden) Tantra. Der wird, wie alles Östliche, im Westen völlig falsch gesehen. Er beruht auf dem Zusammenspiel von Yin und Yang, von Männlichem und Weiblichem (mit und ohne konkrete Ergänzung), dem Erleben einer inneren gegengeschlechtlichen Gottheit und der All-Liebe.

 

Das für Indien ganz besonders Auffällige an den Tantrikern war, dass sie sich über alle Konventionen hinwegsetzten, auch über das Kastenwesen. Das heißt, es ging um den eigenen Weg, ganz egal ob der gesellschaftlich als anstößig, abstoßend, verrückt oder sonst was gelten musste. Der/die Tantriker/in ist nur sich selbst und seiner/ihrer inneren Gottheit verpflichtet. Tantriker kümmern sich nicht um die Gesellschaft, um Traditionen oder Theorien/Philosophien. Dafür ist ihr ganzes Leben Übung. Das sich über alle Traditionen Hinwegsetzen liegt also schon in der Tradition des Yoga. Natürlich entstanden auch da starre Strukturen. Ein „moderner“ Yoga müsste aber wieder auf die ursprüngliche Freiheit von allen Traditionen und zum Gehen des je eigenen Weges zurückkommen.

 

Was bedeutet das praktisch?

Man braucht auf dem Weg theoretisches Wissen, das dient aber nur zur Orientierung. Man braucht auch die Lehrer, d.h. Menschen, von denen man praktisch etwas lernen kann. Das kann ein „Guru“ sein, sofern er kein Scharlatan ist, das können aber auch Menschen sein mit ganz bestimmten Qualitäten, von denen man lernen kann. Und letztlich kann man von allem und jedem lernen. Wichtig ist vor allem die Einstellung der Offenheit.

Die Theorie hilft aber im Ernstfall, also im Leben, nicht weiter. Es ist müßig, sich gegenseitig die Theorien an den Kopf zu werfen, das dient nur dem Ego, der Konkurrenz, der Rivalität (wie im ganz gewöhnlichen Leben), dem spirituellen Materialismus.

 

Yoga, Buddhismus, Daoismus, was auch immer, alles das sind Übungswege. Was aber auch wiederum nicht heißt, sich zu bestimmten Zeiten an einen bestimmten Übungsort zu setzen und zu meditieren. Das mag manchen liegen, ich habe das nie geschafft. Routine kann auch zum Hindernis werden.

Was vielleicht viele beobachtet haben: Wenn man eine Übung zum ersten Mal macht, gelingt sie meist überraschend gut. In der Folge funktioniert sie aber gar nicht. Heißt, es wurde einem gezeigt, was es anzustreben gibt. Das muss aber dann erst mühsam erarbeitet werden.

 

Die eigentliche Übung aber ist das Leben. Wir sind hier, um zu lernen, und nicht nur in einem zeitlich und örtlich begrenzten Ausschnitt dieses Lebens. Das mag überfordernd klingen, aber es ist vor allem eine Einstellung. Im Übungsweg gibt es selbstverständlich Hochs und Tiefs. Letztere gehören genauso dazu wie die „Erfolge“. Ein Yogi wird daher auch ein psychisches Tief oder eine totale Flaute als Teil seines Übungsweges sehen. Das Leben ist immer dynamisch und rhythmisch; ohne Tief kein Hoch. Daher ist das Tief genauso wichtig wie das Hoch.

 

Die „Erfolge“ oder „Früchte“ der Übung zeigen sich meist überraschend und unerwartet. Indem man etwas – vielleicht sogar Banales – plötzlich völlig anders sieht. Etwa ein Schneegestöber, bei dessen Wahrnehmung außen und innen verschmelzen. Oder eine Krähe, die plötzlich Auslöser einer Liebe zu allen Wesen wird und buchstäblich zu Tränen rührt. Auch das Wo ist nicht „spirituell“ normiert: Ich habe zweimal etwas Außerreales gesehen (einmal eine unter klarem Wasser stehende Wiese, ein anderes Mal eine Blumenwiese), als ich auf dem WC saß. Einmal sah ich den halben Raum dreidimensional erfüllt mit Pflanzen mit großen herzförmigen Blättern, als ich mich zu nächtlicher Stunde ganz normal mit einer Frau unterhielt.

 

 

Ziel sind aber nicht besondere Erfahrungen oder „Erleuchtungen“, sondern eine Veränderung und Entwicklung der Persönlichkeit, eine Erhöhung des Energieniveaus. Im Wesentlichen geht es um zweierlei: um die Entwicklung von All-Liebe und um Stille. Immer wieder in die Stille einzukehren und zu allen und allem Liebe zu entwickeln. Beides möglichst im Alltag.